Samstag, 2. März 2013

Zum Vorlagebeschluss des BGH vom 24.01.2013 - I ZR 171/10

Carmen Media revisited?
Ein Artikel von RA Dr. Ronald Reichert, Fachanwalt für Verwaltungsrecht und RA Michael Gindler, LL.M.

I.
Zum wesentlichen Inhalt des Beschlusses


Mit Beschluss vom 24.01.2013 legt der BGH dem EuGH folgende Fragen gem. Art. 267 Abs. 1 Buchst. a, Abs. 3 AUEV zur Vorabentscheidung vor:

    Stellt es eine inkohärente Beschränkung des Glücksspielsektors dar,

        wenn einerseits in einem als Bundesstaat verfassten Mitgliedstaat die Veranstaltung und die Vermittlung öffentlicher Glücksspiele im Internet nach dem in der überwiegenden Mehrheit der Bundesländer geltenden Recht grundsätzlich verboten ist und – ohne Rechtsanspruch – nur für Lotterien und Sportwetten ausnahmsweise erlaubt werden kann, um eine geeignete Alternative zum illegalen Glücksspielangebot bereitzustellen sowie dessen Entwicklung und Ausbreitung entgegenzuwirken,

        wenn andererseits in einem Bundesland dieses Mitgliedstaates nach dem dort geltenden Recht unter näher bestimmten objektiven Voraussetzungen jedem Unionsbürger und jeder diesem gleichgestellten juristischen Person eine Genehmigung für den Vertrieb von Sportwetten im Internet erteilt werden muss und dadurch die Eignung der im übrigen Bundesgebiet geltenden Beschränkung des Glücksspielvertriebs im Internet zur Erreichung der mit ihr verfolgten legitimen Ziele des Allgemeinwohls beeinträchtigt werden kann?

    Kommt es für die Antwort auf die erste Frage darauf an, ob die abweichende Rechtslage in einem Bundesland die Eignung der in den anderen Bundesländern geltenden Beschränkungen des Glücksspiels zur Erreichung der mit ihnen verfolgten legitimen Ziele des Allgemeinwohls aufhebt oder erheblich beeinträchtigt?

Falls die erste Frage bejaht wird:

    Wird die Inkohärenz dadurch beseitigt, dass das Bundesland mit der abweichenden Regelung die in den übrigen Bundesländern geltenden Beschränkungen des Glücksspiels übernimmt, auch wenn die bisherigen großzügigeren Regelungen des Internetglücksspiels in diesem Bundesland hinsichtlich der dort bereits erteilten Konzessionen noch für eine mehrjährige Übergangszeit fortgelten, weil diese Genehmigungen nicht oder nur gegen für das Bundesland schwer tragbare Entschädigungszahlungen widerrufen werden könnten?

    Kommt es für die Antwort auf die dritte Frage darauf an, ob während der mehrjährigen Übergangszeit die Eignung der in den übrigen Bundesländern geltenden Beschränkungen des Glücksspiels aufgehoben oder erheblich beeinträchtigt wird?

Der BGH nutzt die Vorlage zugleich dazu, dezidiert zu den aufgeworfenen Fragen bezüglich einer möglichen regionalen Inkohärenz durch unterschiedliche Regelungen in den einzelnen Bundesländern Stellung zu nehmen. Er versucht dabei, die eigentlich klar formulierten Aussagen der Carmen-Media- sowie der Winner-Wetten Entscheidungen des EuGH zu relativieren.

Der Gedankengang lässt sich wie folgt zusammenfassen:

    Der BGH stellt zunächst in tatsächlicher Hinsicht die unterschiedlichen Regelungskonzepte in Schleswig-Holstein im Vergleich zu den übrigen Bundesländern fest und hebt dabei hervor, dass § 26 des schleswig-holsteinischen Glücksspielgesetzes Werbung für öffentliches Glücksspiel im Fernsehen oder im Internet grundsätzlich zulässt. Das schleswig-holsteinische Recht lasse zudem bei Vorliegen bestimmter objektiver Zulassungsvoraussetzungen jedem Bürger und jeder juristischen Person aus der Europäischen Union einen Rechtsanspruch auf Erteilung einer Erlaubnis für die Veranstaltung und den Vertrieb öffentlicher Glücksspiele und Wetten im Internet zukommen. Im gesamten übrigen Bundesgebiet sei dagegen das Veranstalten und Vermitteln öffentlicher Glücksspiele im Internet sowie die Werbung für öffentliches Glücksspiel im Fernsehen, im Internet sowie über Telekommunikationsanlagen grundsätzlich weiterhin verboten. Die Verwendung des Internets könne zu diesen Zwecken nur ausnahmsweise unter bestimmten Voraussetzungen für Lotterien und Sportwetten erlaubt werden, wobei auf die Erteilung der Erlaubnis kein Rechtsanspruch bestehe.

    Aufgrund des Inkrafttretens des schleswig-holsteinischen Glücksspielgesetzes könne daher nicht ausgeschlossen werden, dass für die Zeit seit dem 01. Januar 2012 im Bundesgebiet insgesamt eine inkohärente Rechtslage entstanden sei mit der Folge, dass die Beschränkungen des GlüStV n.F. unanwendbar seien. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass die liberaleren Regelungen in Schleswig-Holstein die Eignung der entsprechenden Verbote in den anderen Bundesländern mehr als nur unerheblich beeinträchtigt. Es sei bereits fraglich, ob sich die Teilnahmemöglichkeit an Glücksspielen über das Internet wirksam auf das Bundesland Schleswig-Holstein beschränken lasse. Insbesondere könne die zugelassene Werbemöglichkeit für Glücksspiele im Fernsehen, im Rundfunk und im Internet aufgrund der Natur dieser Medien nicht wirksam auf das Gebiet Schleswig-Holsteins beschränkt werden.

    Hinsichtlich des so aufgeworfenen Problems der regionalen Inkohärenz verweist der BGH zunächst darauf, dass die unionsrechtliche Bewertung umstritten sei. Teilweise werde eine Inkohärenz des Internetverbots aufgrund des schleswig-holsteinischen Sonderweges angenommen (s. Dörr/Janisch, K&R Beihefte 1/2012, 1, 9 ff.; Brock, CR 2011, 517, 524). In der Rechtsprechung hingegen sei eine Inkohärenz bisher stets verneint worden.

    Der BGH versteht die Carmen Media-Entscheidung des EuGH dahin, dass unterschiedliche Regelungen der Bundesländer grundsätzlich zu einer inkohärenten Rechtslage führen können. Allein die Tatsache, dass die unterschiedlichen Regelungen Ausfluss einer verfassungsmäßig verankerten bundesstaatlichen Ordnung sind, stehe dem grundsätzlich nicht entgegen (so aber Pagenkopf, NJW 2012, 2918, 2924). Dies spreche dafür, dass die Bundesländer untereinander ihre Politik im Glücksspielbereich dergestalt abzustimmen haben, dass die Eignung zur Erreichung des mit den Regelungen verfolgten Ziels jeweils gewährleistet bleibe.

    Einen abweichenden Ansatz entnimmt der BGH der Markus StoßEntscheidung. Darin habe der EuGH klargestellt, dass Schwierigkeiten bei der Durchsetzung des Lotterie und Wettmonopols gegenüber im Ausland ansässigen Veranstaltern die Vereinbarkeit eines solchen Monopols mit dem Unionsrecht nicht beeinträchtige. Der BGH ist der Auffassung, diese Auslegung lasse sich auch auf die Nutzung von Internetangeboten aus Schleswig-Holstein durch dazu nicht befugte Spieler anderer Bundesländer übertragen.

    Hierzu greift er auf allgemeine unionsrechtliche Grundsätze zurück:

        Zwar habe es der Mitgliedsstaat grundsätzlich selbst in der Hand, regional unterschiedliche Bestimmungen innerhalb seines Staatsgebietes zu verhindern, wohingegen dies bei Auswirkungen ausländischer Angebote nicht der Fall sei. Allerdings ergebe sich aus Artikel 4 Abs. 3 EUV für die Union ein Gebot der Rücksichtnahme auf verfassungsrechtliche Schwierigkeiten – und im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 EUV – auf bundesstaatliche Strukturen in den Mitgliedsstaaten. Zudem gelte für die Auslegung die Anwendung des Unionsrechts der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Artikel 5 Abs. 1 Satz 2 EUV). Danach dürften die Mitgliedsstaaten durch das Unionsrecht auferlegten Pflichten nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen.

        Vor diesem Hintergrund führt der BGH aus, es erschiene ihm wenig angemessen und mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kaum vereinbar, wenn ein einzelnes Bundesland eine von den Regelungen der übrigen Bundesländer abweichenden Regelung einführen wolle. Dabei sei zudem zu beachten, dass ein Bundesland weder vom Bund noch von den anderen Bundesländern gezwungen werden könne, eine bestimmte Regelung in einem der Kompetenz der Länder unterliegenden Bereich zu treffen. Weiterhin unterschieden sich in praktischer Hinsicht die Auswirkungen auf den Binnenmarkt durch regional unterschiedliche Regelungen nicht von Regelungsunterschieden zwischen kleineren und größeren Mitgliedsstaaten, die in einem nicht harmonisierten Sektor mit dem Glücksspielwesen bestehen können und unionsrechtlich hinzunehmen seien.

    Im Ergebnis ist der BGH daher der Auffassung, dass die erste Vorlagefrage zu verneinen sei.

    Mit Bezug auf die zweite Vorlagefrage sprechen die vorgenannten Gesichtspunkte nach Ansicht des BGH jedenfalls für die Anerkennung einer Erheblichkeitsschwelle bei der Kohärenzprüfung. Unterschiedliche Regelungen innerhalb eines Bundesstaates führten folglich dann nicht zu einer Inkohärenz der Beschränkungen, wenn deren Eignung durch eine liberalere Regelung in einem einzelnen, kleineren Bundesland nur unerheblich beeinträchtigt werde.

    Mit der dritten Vorlagefrage hat der BGH die jetzt eingetretene Situation antizipiert, die durch ein Beitritt Schleswig-Holsteins zum Glücksspieländerungsstaatsvertrag gekennzeichnet ist unter gleichzeitiger Fortgeltung der bereits erteilten glücksspielrechtlichen Erlaubnisse für die Dauer von sechs Jahren. Nach seiner Auffassung steht die Geltung der Erlaubnisse für diese Zeit parallel zur Geltung der Regelungen des GlüStV n.F. der Annahme einer kohärenten Rechtslage nicht entgegen.

        In diesem Zusammenhang verweist der BGH auf ein Urteil des EuGH vom 21.07.2011 – C-159/10 und C-160/10 – Fuchs und Köhler. In diesem Verfahren ging es u.a. um die schrittweise Anhebung der Regelaltersgrenze von 65 auf 67 Jahren in dem Beamtengesetz des Bundes und mehrerer Länder. Das Land Hessen hatte eine entsprechende Anhebung beabsichtigt, aber noch nicht eingeführt. Der EuGH sah darin jedoch keinen Grund für eine Inkohärenz. Er hob vielmehr hevor, dass die Änderung in den einzelnen Mitgliedsstaaten in unterschiedlichem Rhythmus erfolgen könnten, um der jeweiligen besonderen Situation Rechnung zu tragen. Dieser Rhythmus könne auch von Region zu Region, hier von Land zu Land, unterschiedlich sein, um regionale Besonderheiten zu berücksichtigen und es den zuständigen Behörden zu ermöglichen, die erforderlichen Anpassungen vorzunehmen. Daraus folge, dass das Gesetz eines Mitgliedsstaates oder eines Landes nicht schon deshalb inkohärent sei, weil es im Hinblick auf die Anhebung der Regelaltersgrenze zu einem anderen Zeitpunkt geändert werde als das eines anderen Mitgliedsstaates oder Landes.

        Der Erste Senat hält diese Grundsätze auch auf den vorliegenden glücksspielrechtlichen Zusammenhang für übertragbar: Die Länder sind sich in der Verfolgung einer gemeinsamen Glücksspielpolitik einig. Unter erneutem Rückgriff auf die Grundsätze der loyalen Zusammenarbeit und der Verhältnismäßigkeit meint der BGH nun, es könne daher nicht zu einer Inkohärenz führen, wenn aufgrund einer abweichenden Ausgangslage in einem Bundesland die entsprechenden Regelungen erst nach mehrjähriger Übergangszeit in Kraft treten können, solange eine Umsetzung so rasch wie zumutbar erfolge. Er gibt zu bedenken, ob es nicht den nationalen Gerichten zu überlassen sei, darüber zu entscheiden, ob eine von einem Mitgliedsstaat in Anspruch genommene Zeitspanne zur Herstellung einer kohärenten Regelung, den Grundsätzen der Erforderlichkeit und Zumutbarkeit entspreche. Der Senat macht ferner deutlich, dass seiner Auffassung nach eine Inkohärenz selbst dann nicht anzunehmen sei, wenn die im überwiegenden Teil eines Mitgliedsstaates geltenden Beschränkungen des Glücksspiels für die Dauer der Übergangszeit erheblich beeinträchtigt werde.

        Auch mit Blick auf einen notwendigen Übergangszeitraum mobilisiert der BGH den unionsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: Nach seiner Auffassung wäre es unverhältnismäßig, wenn die Mehrzahl der Bundesländer ihre unionsrechtlich anerkannte Regelungskompetenz schon deshalb nicht mehr ausüben könnten, weil aufgrund besonderer Umstände ein einzelnes Bundesland entsprechende Regelungen erst nach einer Übergangszeit einführen könne.

        Weiterhin spricht nach Ansicht des BGH für eine Anerkennung einer mehrjährigen Übergangszeit, dass bei einer sofortigen Rechtsänderung in Schleswig-Holstein die öffentliche Hand „schwer tragbare Entschädigungszahlungen“ zu leisten hätte.

    Die vierte Vorlagefrage zielt, wie bereits die zweite, auf die Relevanz der Erheblichkeit einer Beeinträchtigung durch regionale Regelungsunterschiede, nun allerdings mit Blick auf eine etwaig notwendige Übergangszeit. Jedenfalls eine unerhebliche Beeinträchtigung der Eignung von Beschränkungen des Internetglücksspiels im übrigen Bundesgebiet sollten nicht als unionsrechtlich relevante Inkohärenz angesehen werden.

II.
Einordnung und Würdigung


    Sämtliche Einwände gegen die Kohärenz und den fehlenden Erforderlichkeits- und Verhältnismäßigkeitsnachweis der Beschränkungen des geltenden Rechts bleiben in dem Beschluss unerörtert. Der BGH befasst sich damit schlicht nicht. Er widmet sich ohne entsprechende Hinweise von vornherein allein der Problematik der regionalen Inkohärenz.

    Diese fehlende Befassung mit der unionsrechtlichen Beurteilung des Glücksspieländerungsstaatsvertrags mag dem BGH insoweit nachzusehen sein, als diese Rechtsänderungen erst kurz vor der mündlichen Verhandlung in Kraft getreten waren. Die vom BGH zitierten Urteile und das Schrifttum stammen dementsprechend aus der Zeit davor und befassen sich ausschließlich mit der seit dem 01. Januar 2012 in Deutschland bestehenden gegenüber des schleswig-holsteinischen Sonderwegs einerseits und der fortbestehenden Regulierung des alten Glücksspielstaatsvertrags. Auch eine schriftsätzliche Aufarbeitung der Prozessbevollmächtigten zur neuen Rechtslage hat dem BGH zum Zeitpunkt seiner Entscheidung nach diesseitigem Kenntnisstand nicht vorgelegen. In der mündlichen Verhandlung hat der Senat Vortrag dazu nach eigenem Bekunden ebenfalls nicht für erforderlich gehalten und ist auf unionsrechtliche Vorhalte gegen die neue Rechtslage, soweit sie vorgetragen wurden, auch nicht eingegangen.

    Sie hat allerdings zwei Konsequenzen: zum einen wirft sie nicht geringe Zulässigkeitsprobleme für den Vorlagebeschluss auf, weil die Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Fragen auch unionsrechtlich nach Artikel 267 Abs. 2 vorausgesetzt wird.

    Zum anderen führt sie dazu, dass die Rechtslage auch nach Klärung der vorgelegten Frage für die Zeit seit dem 1.7.2012 ungeklärt bleibt. Geklärt wird im Grunde nur die Rechtslage für die Zeit vom 1.1.2012 bis zum 30.6.2012.

    Der BGH verkennt, dass für Sportwettkonzessionäre ein Anspruch auf Betätigung im Internet besteht. Zu Unrecht meint er, es bedürfe insoweit einer Erlaubnis, die nur ausnahmsweise unter bestimmten Voraussetzungen erteilt werden könnte. § 10 a Abs. 4 S. 1 und 2 GlüStV bestimmt das Gegenteil. Damit entfällt die Grundannahme des BGH, dass nach dem Glücksspielstaatsvertrag die bisherige Rechtslage fortbestehe.

    Wenn danach mit dem neuen Recht für Sportwettkonzessionäre das Internetverbot aufgehoben worden ist, kann auch die bisherige Trennung zwischen der Kohärenzbeurteilung im stationären Vertrieb und im Onlinevertrieb nicht aufrechterhalten bleiben. Inkohärenzen des Glückspielrechts für stationäre Angebote schlagen dann grundsätzlich auf den Onlinebereich durch.

    Ferner stellt sich nach der neuen Rechtslage seit dem 1.7.2013 die Frage, ob seither die erlaubnisfähigen Anbieter nicht mit Rücksicht auf die Verfassungs- und Unionsrechtswidrigkeit der Deckelung wie konzessionierte Anbieter behandelt werden müssen.

    Schon diese beiden Gesichtspunkte führen dazu, dass die Frage nach der regionalen Inkohärenz eigentlich gar nicht entscheidungserheblich war.

    Was die Frage nach der regionalen Kohärenz selbst anbetrifft, zitiert der BGH zutreffend die klaren Ausführungen des Carmen Media-Urteils des EuGH (Rdn. 69 und 70). Er interpretiert diese selbst zutreffend dahin, dass sie die Annahme nahelegen, dass ebenso wie Bund und Bundesländer auch die Bundesländer ihre Glücksspielpolitik untereinander abzustimmen haben, um die Beachtung der unionsrechtlichen Dienstleistungsfreiheit zu gewährleisten (UA Rn. 21, S. 10). Vor allem der zweite Satz der Rn.69 spricht hierzu eigentlich eine unmissverständliche Sprache und ist allgemeingültig formuliert. Mit seiner Vorlage zieht der BGH jedenfalls insoweit die Konsequenz aus dieser Rechtsprechung, als er anerkennt, dass die bisherige EuGH-Rechtsprechung die von ihm präferierte Auslegung zur regionalen Kohärenz auch für Deutschland nicht zulässt, wenn sie nicht durch den EuGH im Wege der Rechtsfortbildung geändert oder relativiert wird.

    Dass diese Annahme irgendwie zu relativieren sein könnte, versucht er anschließend lediglich aus dem Parallelurteil des EuGH i.S. Stoß herzuleiten, in dem Vollzugsdefizite aufgrund im Inland abrufbarer Internetangebote aus dem Ausland als unbeachtlich dargestellt werden.

    Das ist freilich schon im Ansatz wenig überzeugend, weil die zitierte Formulierung des Stoß-Urteils eine ganz andere Fragestellung betrifft. Während es bei Carmen Media und der Vorlagefrage gesetzliche Regelungsdivergenzen geht, betrifft Stoß bloße Vollzugsdefizite. Aus Aussagen des EuGH zu den Vollzugsdefiziten können freilich keine Bedenken oder Lücken seiner Aussagen zur Konstellation der Regelungsunterschiede hergeleitet werden.

    Auch das Bundesverfassungsgericht differenziert seit jeher sehr deutlich zwischen Inkonsistenzen der Rechtslage einerseits und bloßen Vollzugsdefiziten, die es nur als beachtlich ansieht, wenn sie strukturell angelegt sind. Irgendeine Relativierung der Aussagen des Carmen Media-Urteils wird man daraus schwerlich ableiten können.

    Ob überhaupt eine unionsrechtlich klärungsbedürftige Rechtsfrage besteht, ist danach zweifelhaft und wird vom BGH jedenfalls auf fragwürdige Weise begründet.

    Die dergestalt konstruierte offene Rechtsfrage versucht der BGH anschließend selbst zu beantworten. Er bemüht dazu den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten gemäß Art. 4 Abs. 3 AEUV, aus dem er ein Gebot der Rücksichtnahme auf bundesstaatliche Strukturen herleiten will. Ferner zieht er den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit heran, der hierbei allerdings nicht seiner Natur entsprechend zur Beschränkung von Eingriffen in die Dienstleistungsfreiheit verwendet wird, sondern nunmehr dazu dienen soll, den Schutz der Dienstleistungsfreiheit zu relativieren und Eingriffe zu rechtfertigten, statt sie als freiheitssichernde Schranke abzuwehren.

    Der BGH zeigt in seinen Ausführungen auch nur eine Seite der Medaille auf, indem er fragt, ob bereits die abweichende gesetzliche Regelung eines Landes das abweichende Recht der anderen Länder in Frage stellen könne, indem sie es inkohärent mache. Die umgekehrte Perspektive erscheint aus Sicht des Unionsrechts, das nach Rechtfertigungen für Grundfreiheitsbeschränkungen fragt, noch näherliegend und wird vom BGH nicht formuliert. Kann der Willen einzelner Regionen / Bundesländer, schärfere Freiheitsbeschränkungen einzuführen oder beizubehalten, die Ausübung der Grundfreiheiten in anderen Regionen desselben Mitgliedsstaaten wirksam beeinträchtigen? Gerade wenn sich Internetangebote und Internetwerbung nicht effektiv auf ein Land beschränken lassen, hieße eine unbeeinträchtigte Anwendung der hiermit nicht kohärenten strengeren Verbote der anderen Länder, dass die Freiheitsausübung im Anwendungsbereich des freiheitlicheren Rechts hierdurch effektiv vereitelt würde. Eine parallele, gänzlich unbeeinträchtigte Geltung gänzlich widersprüchlicher Regelungskonzepte (Internetwerbeverbot, Internetwerbefreiheit) in verschiedenen, benachbarten Regionen eines Mitgliedstaats ist jedenfalls im Bereich des Internets nicht möglich. Es stellt sich also ebenso die Frage, ob die Fortgeltung inkohärenten Rechts nicht mindestens dort ihre Grenze finden muss, wo sie zugelassene Freiheitsausübung in demselben Mitgliedstaat beeinträchtigen kann.

    Unabhängig von diesen dogmatischen Bedenken ist auch das Kernargument des Bundesgerichtshofs wenig überzeugend, Bundesländer und Bund könnten ein Bundesland zu bestimmten Regelungen nicht zwingen. Denn diese Erkenntnis, die im Wesen des Bundesstaates liegt, gilt ebenso im Verhältnis zwischen Bund und Ländern, hat den EuGH aber nicht daran gehindert, insoweit einen strengen Kohärenzmaßstab aufzustellen.

    Ebenso wenig verfängt der Hinweis, dass im nicht harmonisierten Glücksspielbereich zwischen den Mitgliedsstaaten genauso große Regelungsunterschiede bestünden wie zwischen den Bundesländern. Bundesländer wie Mitgliedsstaaten zu behandeln widerspricht gefestigter Rechtsprechung des Unionsrechts und der vom BGH selbst zitierten Passage des Carmen Media-Urteils.

    Der BGH legt dem EuGH anschließend für den Fall, dass seine Anregungen nicht aufgegriffen werden, nahe, das Kohärenzkriterium durch die Anerkennung einer Erheblichkeitsschwelle gleich wieder zu relativieren. Diese solle zumindest für das Verhältnis der Bundesländer untereinander gelten. Auch hier wird nicht verständlich, warum insoweit zwischen den Bundesländern etwas anderes gelten solle als zwischen Bund und Ländern. Der EuGH hat eine solche bislang eben gerade nicht anerkannt. Zudem scheint der BGH eine Differenzierung hinsichtlich der größe der Bundesländer vornehmen zu wollen, wenn er ausdrücklich auf eine liberalere Regelung „in einem kleineren Bundesland“ hinweist. Danach würden Regelungsunterschiede in verschiedenen Bundesländern sich folglich nur bei Erreichen einer Mindestgröße auf die Kohärenzbeurteilung auswirken. Dass dies zu schwerlich lösbaren Abgrenzungsproblemen führte, liegt auf der Hand.

    Besonders bemerkenswert sind sodann die Seiten 13 bis 16 des Beschlusses, auf denen der BGH im Vorgriff auf die seinerzeit erwartete künftige Rechtslage in Gestalt des Beitritts Schleswig-Holsteins zum Glücksspieländerungsstaatsvertrag Folgefragen aufwirft.

    Dieses Vorgehen erscheint praktisch sinnvoll, um eine Perpetuierung der Rechtsunsicherheit zu vermeiden. Allerdings fehlt es an einer entsprechenden Rechtsgrundlage. Der BGH vermeidet es, die insoweit bestehenden Zulässigkeitsbedenken auch nur anzusprechen.

    Stattdessen versucht er auch hier, dem EuGH gleich die Lösung in den Mund zu legen. Diese soll in der unionsrechtlichen Anerkennung einer Übergangszeit bestehen.

    Überraschend ist dieser Lösungsansatz schon deshalb, weil er die einschlägige Rechtsprechung des EuGH dazu völlig verkennt. Denn dieser hat ja parallel zu den vom BGH zitierten Urteilen gerade mit Blick auf die deutsche Rechtslage im Winner Wetten-Urteil das Gegenteil entscheiden. Gleichwohl wird das Urteil nicht einmal erwähnt. Überdies wird die Frage der Übergangszeit vermengt mit den Grundsätzen der Erforderlichkeit und Zumutbarkeit.

    Völlig ausgeblendet bleibt darüber hinaus der Umstand, dass die gewährte Übergangszeit mit sechs Jahren der Dauer der Gültigkeit der Rechtslage in den übrigen Bundesländern entspricht, deren Unionsrechtskonformität zu überprüfen ist. Von einer übergangsweisen Anpassung der Rechtslage an diejenige in den übrigen Bundesländern wird bei dieser Ausgangslage freilich kaum gesprochen werden können. Auch wird verkannt, dass die Inhaber einer schleswig-holsteinischen Genehmigung einen Anspruch auf eine Folgegenehmigung für weitere vier Jahre nach dem für sie fortgeltenden Landesrecht haben. Insgesamt ist die Dauer der Genehmigungen danach erheblich länger als diejenige des Rechts, dessen Überprüfung dem BGH aufgegeben ist.

    Um ganz sicher zu gehen, dass selbst eine Absage des EuGH an diesem Auslegungsversuch nicht zur Inkohärenz des geltenden Rechts führt, versucht der BGH anschließend auch insoweit noch eine Erheblichkeitsschwelle einzuführen. Verschwiegen wird dabei, dass schon zum Zeitpunkt der BGH-Entscheidung insgesamt fast 50 Onlinegenehmigungen für Sportwett- oder Casinoangebote vorlagen, hinter denen ausweislich des Homepageauftritts des schleswig-holsteinischen Innenministeriums, auf den der BGH in der mündlichen Verhandlung selbst hingewiesen hatte, die größten deutschen Glücksspielanbieter stehen (s. die dortigen Klammerzusätze) . Die erteilten Genehmigungen decken danach zwei Drittel des deutschen Marktes ab. Bei dieser Ausgangslage die Erheblichkeit der Auswirkungen in Frage stellen zu wollen, ist kaum nachvollziehbar.

    Gänzlich nicht eingegangen ist der BGH schließlich darauf, dass in Schleswig-Holstein Poker- und Casinoangebote erlaubnisfähig sind, während dies nach dem Glücksspielstaatsvertrag nicht der Fall ist. Auch die Klägerin verfügt über solche Angebote, so dass diese Frage entscheidungserheblich ist. Es fällt demgemäß schwer, eine in die Grundliniene des BGH passende Erklärung dafür zu finden. Sollte es so sein, dass eine diesbezügliche Vorlage unterblieben ist, weil man eine Inkohärenz in diesem Bereich schwerlich verneinen kann?

III.
Fazit


Insgesamt spricht vieles dafür, dass der Senat ein politisches Urteil versucht. Schon der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung und der Aufschub des Verkündungstermins auf den 24. Januar 2013 waren in diese Richtung gedeutet worden. Nicht von ungefähr haben die Andeutungen des BGH in der mündlichen Verhandlung und die Presseberichterstattung massiven politischen Druck auf die künftige Regulierung in Schleswig-Holstein entfaltet. Vor allem aber der Umstand, dass der BGH anstelle einer unionsrechtlichen Würdigung des Glücksspielstaatsvertrags selbst sich ausschließlich mit dem Problem des Verhältnisses zum schleswig-holsteinischen Recht befasst, spricht stark für diese Annahme. Anstelle einer Subsumtion des geltenden Rechts unter den unionsrechtlichen Kriterien und einer Zurückverweisung zur Aufklärung der Einhaltung der Maßgaben des Unionsrechts für die Kohärenz mit Blick auf die Werbung für staatliche und private Angebote in den Bundesländern, wird der EuGH ohne Klärung der rechtlichen Prämissen mit voraussichtlich theoretischen Rechtsfragen befasst. Wünschenswert wäre es hier gewesen, dass der BGH sich mit der ihm aufgetragenen unionsrechtlichen Rechtsprüfung anhand der insoweit bereits vom EuGH formulierten und klar konturierten Maßstäbe näher befasst hätte, anstatt sich an den dem EuGH obliegenden Auslegungsfragen zu versuchen.

Rechtsanwalt Dr. Ronald Reichert
Sozietät Redeker Sellner Dahs
Mozartstraße 4-10


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Zusammengestellt von Volker Stiny