Donnerstag, 11. Juni 2015

PM: Ungarisches Verbot von Geldspielautomaten verstößt möglicherweise gegen Unionsrecht


Zum EuGH-Urteil in der Rechtssache C-98/14

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Gerichtshof der Europäischen Union
PRESSEMITTEILUNG Nr. 69/15
Luxemburg, den 11. Juni 2015
Urteil in der Rechtssache C-98/14
Berlington Hungary Tanácsadó és Szolgáltató Kft u. a./Magyar Állam

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Die ungarischen Rechtsvorschriften, die den Betrieb von Geldspielautomaten außerhalb von Spielkasinos verbieten, verstoßen möglicherweise gegen den Grundsatz der Dienstleistungsfreiheit

Widerruft der nationale Gesetzgeber eine Genehmigung, die ihrem Inhaber die Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit ermöglicht, muss er eine angemessene Entschädigungsregelung oder einen hinreichend langen Übergangszeitraum vorsehen, damit sich der Inhaber der Genehmigung darauf einstellen kann


Bis zum 9. Oktober 2012 durften in Ungarn Geldspielautomaten sowohl in Spielkasinos als auch in Spielhallen betrieben werden. Bis  zum  31.  Oktober 2011 betrug die Pauschalsteuer auf den Betrieb von Geldspielautomaten, die in Spielhallen aufgestellt waren, je Spielstelle monatlich 100 000 HUF (ca. 324 Euro). Zum 1. November 2011 wurde dieser Betrag auf 500 000 HUF (ca. 1 620 Euro) erhöht. Ab diesem Datum wurde auf den Betrieb von Geldspielautomaten in Spielhallen außerdem eine Proportionalsteuer erhoben, die  sich  je Spielstelle  auf 20 % des 900 000 HUF (ca.  2 916  Euro)  übersteigenden vierteljährlichen Nettoumsatzes  belief.  Für den Betrieb von Geldspielautomaten in Spielkasinos galt eine andere Steuerregelung, die im Herbst 2011 nicht geändert wurde.

Aufgrund eines am 2. Oktober 2012 verabschiedeten Gesetzes dürfen Geldspielautomaten seit dem 10. Oktober 2012 nur noch in Spielkasinos betrieben werden, so dass diese Tätigkeit seither nicht mehr in Spielhallen ausgeübt werden kann.

Mehrere Gesellschaften, die Geldspielautomaten in Spielhallen betrieben, haben die ungarischen Gerichte angerufen, weil sie der Auffassung sind, das Unionsrecht stehe Maßnahmen entgegen, die in einem ersten Schritt ihre steuerliche Belastung drastisch erhöht und in einem zweiten Schritt mit quasi sofortiger Wirkung den Betrieb von Geldspielautomaten verboten  hätten.  Diese Gesellschaften  fordern Ersatz für den Schaden, der ihnen durch diese Maßnahmen entstanden sei. Der mit ihren Klagen befasste Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtischer Gerichtshof, Budapest, Ungarn) fragt den Gerichtshof, ob derartige Maßnahmen mit dem Unionsrecht vereinbar sind.

In seinem heutigen Urteil stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass nationale Rechtsvorschriften, die den Betrieb und die Ausübung bestimmter Glücksspiele nur in Spielkasinos erlauben, eine  Beschränkung  des  freien Dienstleistungsverkehrs  darstellen. Ferner kann eine Maßnahme, mit der die Steuern auf den Betrieb von Geldspielautomaten in Spielhallen drastisch erhöht werden, ebenfalls als beschränkend gewertet werden, wenn sie geeignet ist, die Ausübung der Dienstleistungsfreiheit in Gestalt des Betriebs von Geldspielautomaten in Spielhallen zu unterbinden, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen. Hierzu führt der Gerichtshof aus, dass dies der Fall wäre, wenn das nationale Gericht feststellen sollte, dass die Steuererhöhung den rentablen Betrieb von Geldspielautomaten in Spielhallen verhindert und dadurch ihren Betrieb tatsächlich auf Spielkasinos beschränkt hätte.

Der Gerichtshof stellt sodann fest, dass  die mit den streitigen Maßnahmen verfolgten Ziele, nämlich der Schutz der Verbraucher vor Spielsucht  sowie die Verhinderung von Kriminalität und Betrug im Zusammenhang mit  dem  Spielen,  Beschränkungen von Glücksspieltätigkeiten grundsätzlich  rechtfertigen können. Mit diesen Beschränkungen müssen die  genannten Ziele jedoch in kohärenter und systematischer Weise verfolgt werden. Insoweit bemerkt der Gerichtshof  – vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht zu treffenden Feststellungen –, dass Ungarn offenbar eine Politik der kontrollierten Expansion von Glücksspieltätigkeiten verfolgt, in deren Rahmen u. a. im Jahr 2014 neue Konzessionen zum Betrieb von Spielkasinos erteilt wurden. Bei einer solche Politik kann allerdings nur  dann davon ausgegangen werden, dass sie die  genannten  Ziele  in kohärenter  und systematischer Weise  verfolgt, wenn  sie  zum einen geeignet ist, einem tatsächlichen Problem  in Verbindung  mit kriminellen und betrügerischen Aktivitäten  im Zusammenhang  mit dem Spielen  sowie der Spielsucht  in Ungarn abzuhelfen, und zum anderen keinen Umfang hat, der  sie mit dem Ziel der Eindämmung der Spielsucht unvereinbar macht, was vom nationalen Gericht zu prüfen ist.

Das  nationale Gericht wird  auch  zu prüfen  haben,  ob die in Rede stehenden Maßnahmen die Grundsätze der Rechtssicherheit  und des Vertrauensschutzes sowie das Eigentumsrecht der Spielhallenbetreiber beachten. In diesem Zusammenhang weist der Gerichtshof darauf hin, dass der nationale Gesetzgeber, wenn er Genehmigungen widerruft, die ihren Inhabern die Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit ermöglichen, eine  angemessene Entschädigungsregelung  oder einen hinreichend langen Übergangszeitraum vorsehen muss, damit sich die Inhaber der Genehmigungen darauf einstellen können.
Schließlich  betont der Gerichtshof,  dass die Spielhallenbetreiber für den Fall,  dass eine  nicht gerechtfertigte  Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit festgestellt werden sollte, vom ungarischen Staat  Ersatz für den ihnen infolge dieses Verstoßes gegen das Unionsrecht entstandenen Schaden erhalten  können, soweit der Verstoß hinreichend qualifiziert ist und zwischen dem Verstoß und dem entstandenen Schaden ein unmittelbarer Kausalzusammenhang besteht, was zu prüfen Sache des nationalen Gerichts ist.

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HINWEIS:
Im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Union vorlegen. Der Gerichtshof entscheidet nicht über den nationalen Rechtsstreit. Es ist Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Gerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Gerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.

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Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet. Der Volltext des Urteils wird am Tag der Verkündung auf der Curia-Website veröffentlicht.
Pressekontakt: Hartmut Ost  (+352) 4303 3255

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Urteil des EuGH in der Rechtssache Berlington Hungary: Verbot von Geldspielautomaten außerhalb von Spielcasinos erfordert Entschädigungsregelung oder Übergangszeit

Rechtsanwalt Martin Arendts, M.B.L.-HSG

Arendts Rechtsanwälte
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E-Mail: martin.arendts@anlageanwalt.de


Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat am 11. Juni 2015 in der Rechtssache Berlington Hungary (Rs. C-98/14) sein Urteil verkündet. In dieser Sache hatte der ungarische Hauptstädtische Gerichtshof (Fővárosi Törvényszék) dem EuGH gleich 15 Fragen zum ungarischen Glücksspielrecht vorgelegt (zu den Vorlagefragen siehe: http://wettrecht.blogspot.de/....).

Hintergrund dieser Vorlage sind die restriktiven Gesetzgebungsinitiativen der rechtskonservativen ungarischen Regierung. 2011 wurde zunächst massiv an der Steuerschraube gedreht und die Spielsteuer für Automaten ohne Übergangszeitraum verfünffacht. 2012 wurde dann der Betrieb von Geldspielautomaten in Spielhallen komplett verboten (so dass diese nur noch in den Spielbanken erlaubt sind, deren Zahl allerdings deutlich erhöht wurde).

Dieses Vorgehen hält der EuGH für nicht mit Unionsrecht vereinbar. Widerrufe der nationale Gesetzgeber eine Genehmigung, die ihrem Inhaber die Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit ermöglicht, müsse er eine angemessene Entschädigungsregelung oder einen hinreichend langen Übergangszeitraum vorsehen, damit sich der Inhaber der Genehmigung darauf einstellen könne. Tatsächliche Feststellungen müsse das nationale Gericht treffen.

Der EuGH stellt zunächst fest, dass nationale Rechtsvorschriften, die den Betrieb und die Ausübung bestimmter Glücksspiele nur noch in Spielcasinos erlauben, eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs darstellen. Auch könne eine Maßnahme, mit der die Steuern auf den Betrieb von Geldspielautomaten in Spielhallen drastisch erhöht werden, ebenfalls als beschränkend gewertet werden, wenn sie geeignet sei, die Ausübung der Dienstleistungsfreiheit in Gestalt des Betriebs von Geldspielautomaten in Spielhallen zu unterbinden, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen. Hierzu führt der Gerichtshof aus, dass dies der Fall wäre, wenn das nationale Gericht feststellen sollte, dass die Steuererhöhung den rentablen Betrieb von Geldspielautomaten in Spielhallen verhindert und dadurch ihren Betrieb tatsächlich auf Spielcasinos beschränkt hätte.

Nach Auffassung des EuGH können die mit den streitigen Maßnahmen verfolgten Ziele, nämlich der Schutz der Verbraucher vor Spielsucht sowie die Verhinderung von Kriminalität und Betrug im Zusammenhang mit dem Spielen, Beschränkungen von Glücksspieltätigkeiten zwar grundsätzlich rechtfertigen. Mit diesen Beschränkungen müssen die genannten Ziele jedoch in kohärenter und systematischer Weise verfolgt werden (so die ständige Rechtsprechung des EuGH). Eine entsprechende kohärente und systematische Regelung bezweifelt der EuGH, indem er darauf verweist, dass Ungarn offenbar eine Politik der kontrollierten Expansion von Glücksspieltätigkeiten verfolgt, in deren Rahmen u. a. im Jahr 2014 neue Konzessionen zum Betrieb von Spielcasinos erteilt wurden. Bei einer solchen Politik könne nur dann davon ausgegangen werden, dass sie die genannten Ziele in kohärenter und systematischer Weise verfolge, wenn sie zum einen geeignet ist, einem tatsächlichen Problem in Verbindung mit kriminellen und betrügerischen Aktivitäten im Zusammenhang mit dem Spielen sowie der Spielsucht in Ungarn abzuhelfen, und zum anderen keinen Umfang hat, der sie mit dem Ziel der Eindämmung der Spielsucht unvereinbar macht. Dies sei vom nationalen Gericht zu prüfen.

Das nationale Gericht wird auch zu prüfen haben, ob die in Rede stehenden Maßnahmen die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes sowie das Eigentumsrecht der Spielhallenbetreiber beachten. In diesem Zusammenhang weist der EuGH darauf hin, dass der nationale Gesetzgeber, wenn er Genehmigungen widerruft, die ihren Inhabern die Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit ermöglichen, eine angemessene Entschädigungsregelung oder einen hinreichend langen Übergangszeitraum vorsehen muss, damit sich die Inhaber der Genehmigungen darauf einstellen können.

Interessant sind die Ausführungen des EuGH zur unionsrechtlichen Staatshaftung. Sofern eine nicht gerechtfertigte Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit festgestellt werden sollte, könnten die Spielhallenbetreiber vom ungarischen Staat Ersatz für den ihnen infolge dieses Verstoßes gegen das Unionsrecht entstandenen Schaden erhalten, soweit der Verstoß hinreichend qualifiziert ist und zwischen dem Verstoß und dem entstandenen Schaden ein unmittelbarer Kausalzusammenhang besteht.

Tenor des Urteils des EuGH:

1. Nationale Rechtsvorschriften wie die im Ausgangsverfahren streitigen, die, ohne einen Übergangszeitraum vorzusehen, den Betrag einer Pauschalsteuer auf den Betrieb von Geldspielautomaten in Spielhallen verfünffachen und darüber hinaus eine Proportionalsteuer auf diese Tätigkeit einführen, stellen eine Beschränkung der mit Art. 56 AEUV gewährleisteten Dienstleistungsfreiheit dar, soweit sie geeignet sind, die Ausübung der Dienstleistungsfreiheit in Gestalt des Betriebs von Geldspielautomaten in Spielhallen zu unterbinden, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen, was zu prüfen Sache des nationalen Gerichts ist.

2. Nationale Rechtsvorschriften wie die im Ausgangsverfahren streitigen, die, ohne einen Übergangszeitraum oder eine Entschädigung der Spielhallenbetreiber vorzusehen, den Betrieb von Geldspielautomaten außerhalb von Spielkasinos verbieten, stellen eine Beschränkung der mit Art. 56 AEUV gewährleisteten Dienstleistungsfreiheit dar.

3. Beschränkungen, die sich aus nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren streitigen ergeben können, können nur dann durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein, wenn das nationale Gericht nach einer Gesamtwürdigung der Umstände, unter denen diese Rechtsvorschriften erlassen und durchgeführt worden sind, zu dem Ergebnis gelangt,
  • dass sie in erster Linie wirklich Ziele verfolgen, die sich auf den Schutz der Verbraucher vor Spielsucht und die Bekämpfung von Kriminalität und Betrug im Zusammenhang mit dem Spielen beziehen, wobei der bloße Umstand, dass eine Beschränkung von Glücksspieltätigkeiten als Nebenfolge – im Wege einer Erhöhung der Steuereinnahmen – auch dem Haushalt des betreffenden Mitgliedstaats zugutekommt, der Annahme nicht entgegensteht, dass diese Beschränkung in erster Linie wirklich derartige Ziele verfolgt;
  • dass sie die genannten Ziele in kohärenter und systematischer Weise verfolgen und
  • dass sie die Anforderungen erfüllen, die sich aus den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts, insbesondere den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes sowie dem Eigentumsrecht ergeben.
4. Art. 1 Nr. 11 der Richtlinie 98/34/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Juni 1998 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen und technischen Vorschriften und der Vorschriften für die Dienste der Informationsgesellschaft in der durch die Richtlinie 2006/96/EG des Rates vom 20. November geänderten Fassung ist dahin auszulegen,
  • dass nationale Rechtsvorschriften, die den Betrag einer Pauschalsteuer auf den Betrieb von Geldspielautomaten in Spielhallen verfünffachen und darüber hinaus eine Proportionalsteuer auf diese Tätigkeit einführen, keine „technischen Vorschriften“ im Sinne dieser Bestimmung sind und
  • dass nationale Rechtsvorschriften, die den Betrieb von Geldspielautomaten außerhalb von Spielkasinos verbieten, „technische Vorschriften“ im Sinne dieser Bestimmung sind, die als Entwurf gemäß Art. 8 Abs. 1 Unterabs. 1 dieser Richtlinie übermittelt werden müssen.
5. Art. 56 AEUV soll dem Einzelnen Rechte verleihen, so dass ein Verstoß gegen diesen Artikel durch einen Mitgliedstaat, einschließlich eines Verstoßes durch dessen Gesetzgebungstätigkeit, zu einem Anspruch des Einzelnen führt, von dem betreffenden Mitgliedstaat Ersatz für den ihm infolge dieses Verstoßes entstandenen Schaden zu erhalten, soweit der Verstoß hinreichend qualifiziert ist und zwischen dem Verstoß und dem entstandenen Schaden ein unmittelbarer Kausalzusammenhang besteht, was zu prüfen Sache des nationalen Gerichts ist.

6. Die Art. 8 und 9 der Richtlinie 98/34 in der durch die Richtlinie 2006/96 geänderten Fassung sollen dem Einzelnen keine Rechte verleihen, so dass ein Verstoß gegen diese Artikel durch einen Mitgliedstaat auf der Grundlage des Unionsrechts nicht zu einem Anspruch des Einzelnen führt, von dem betreffenden Mitgliedstaat Ersatz für den ihm infolge dieses Verstoßes entstandenen Schaden zu erhalten.

7. Der Umstand, dass nationale Rechtsvorschriften wie die im Ausgangsverfahren streitigen einen Bereich betreffen, der in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt, wirkt sich nicht auf die Beantwortung der von dem vorlegenden Gericht gestellten Fragen aus.

Quelle