Freitag, 6. Januar 2017

EGMR zur Unparteilichkeit des Gerichts

Bei einer Abwesenheit des Anklagevertreters in der Verhandlung ist die Unparteilichkeit des Gerichts nicht gegeben.
Urteil vom 20.9.2016, 926/08 (Karelin/Russland)
s.u.

update:
Schlussanträge
ELEANOR SHARPSTON vom 9. März 2017(1); Rechtssache C‑685/15, Online Games Handels GmbH,

Das vorlegende Gericht scheint in diesem Zusammenhang vor allem die Verwischung der Grenzen zwischen Gericht und Anklagebehörde sowie die sich daraus möglicherweise ergebenden Auswirkungen auf die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit mit Skepsis zu betrachten. Es verweist insoweit auf drei Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Das erste ist in der Rechtssache Kyprianou/Zypern ergangen(51). Dieser Fall betraf ein Schnellverfahren wegen Missachtung des Gerichts (contempt of court), das gegen den Beschwerdeführer von denselben Richtern durchgeführt wurde, die dieser im Gerichtssaal kritisiert hatte. Die Anklage wurde von den Richtern selbst erhoben. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied, diese Vermengung der Funktionen sei eindeutig geeignet, objektiv gerechtfertigte Befürchtungen hinsichtlich der Unparteilichkeit des Gerichts zu begründen, das das Verfahren durchgeführt hatte(52).

64.      Das zweite Urteil betrifft die Rechtssache Ozerov/Russland(53). In diesem Fall war der Beschwerdeführer in erster Instanz wegen einer strafbaren Handlung verurteilt worden. Bei der Gerichtsverhandlung war kein Vertreter der Anklage anwesend, obwohl die Teilnahme der Staatsanwaltschaft angeordnet worden war. Das fragliche Verfahren war kontradiktorischer Natur, wobei die Anklagebehörde nach dem zur maßgeblichen Zeit geltenden innerstaatlichen Recht an der Verhandlung teilnehmen musste, wenn dies angeordnet worden war. Wäre der Staatsanwalt anwesend gewesen, hätte er sich an der Überprüfung des Beweismaterials beteiligt und Anträge gestellt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied, das nationale Gericht habe die Rollen des Anklägers und des Richters vermengt und dadurch begründete Zweifel an seiner Unparteilichkeit geweckt(54).

65.      Das vorlegende Gericht führt drittens das Urteil in der Rechtssache Karelin/Russland an(55). Der Beschwerdeführer war wegen einer Ordnungswidrigkeit verurteilt worden und hatte dagegen Berufung eingelegt. Weder an dem erst- noch an dem zweitinstanzlichen Verfahren hatte ein Vertreter der Anklage teilgenommen. Der Tatrichter hatte die Anklage gegen den Beschwerdeführer während der Verhandlung in mehreren Punkten geändert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte fest, in Abwesenheit eines Staatsanwalts sei dem Tatrichter nichts anderes übrig geblieben, als die Anklage gegen den Beschwerdeführer in der Verhandlung nicht nur zu präsentieren, sondern auch zu unterstützen. Er entschied, wegen der Abwesenheit der Anklagebehörde sowohl in erster Instanz als auch im Berufungsverfahren sei das Gebot der Unparteilichkeit verletzt worden(56).

66.      Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gelangte zu dieser Schlussfolgerung aufgrund einer kompletten Bestandsaufnahme seiner Rechtsprechung zur Besorgnis der Befangenheit, die damit zusammenhängen kann, dass die Staatsanwaltschaft an der Gerichtsverhandlung nicht teilnimmt. Dabei machte er keinen besonderen Unterschied zwischen kontradiktorischem und inquisitorischem Verfahren(57). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ging auch auf Fragen ein, die sich daraus ergeben können, dass ein Fall vor einem Berufungsgericht und nicht vor einem erstinstanzlichen Gericht verhandelt wurde. Er entschied, die Situation könne im Berufungsverfahren eine andere sein, vor allem, wenn nur Rechtsfragen zur Debatte stünden, so dass die Rolle der Anklagebehörde „weniger essenziell“ erscheinen könne. Er fügte jedoch hinzu, das Gebot der Unparteilichkeit müsse gleichwohl auch im Berufungsverfahren beachtet werden(58). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied außerdem, wenn es für angebracht gehalten werde, zur gerichtlichen Feststellung des gegen einen Angeklagten erhobenen Tatvorwurfs eine mündliche Verhandlung durchzuführen, sei die Anwesenheit eines Vertreters der Staatsanwaltschaft „im Allgemeinen geeignet, berechtigte Zweifel an der Unparteilichkeit des Gerichts auszuschließen, die andernfalls auftauchen könnten“(59).

67.      Ich kann nicht erkennen, dass all diese Feststellungen durch einen Leitgedanken miteinander verbunden wären, abgesehen von dem zwingenden Erfordernis, dass der Spruchkörper, der über die Schuld des Angeklagten – sei es in erster Instanz oder in einem Berufungsverfahren – zu befinden hat, den objektiven Anschein von Unabhängigkeit und Unparteilichkeit bieten muss. Ich glaube mit anderen Worten nicht, dass feste Regeln hinsichtlich der Beteiligung der Staatsanwaltschaft an derartigen Verfahren aufgestellt werden können, erinnere jedoch an die wichtige Aussage des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der zufolge eine solche Beteiligung im Allgemeinen „geeignet“ ist. Zwar betraf diese Aussage eine erstinstanzliche Verhandlung, während das Verfahren vor einer Gerichtsinstanz wie dem vorlegenden Gericht als Berufungsverfahren bezeichnet wird; es ist jedoch nach nationalem Recht ein Wesensmerkmal dieses Verfahrens, dass in ihm die aufgeworfenen Streitfragen offenbar erstmals einer vollständigen gerichtlichen Überprüfung zugeführt werden. Außerdem liegt der Grund für die Eröffnung einer Verhandlung darin, dass so ein Dialog zwischen den Prozessparteien ermöglicht und dadurch der Informationsstand des Gerichts verbessert werden soll. Wenn die Anklage nicht vertreten ist, kann dieser Dialog nicht, oder zumindest nicht vollumfänglich, stattfinden(60).

68.      Ich möchte ergänzen: Da dem Erfordernis der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Vorrang gebührt, muss das Gericht, wenn insoweit irgendein Zweifel bestehen sollte, bei seiner Entscheidung vorrangig dafür sorgen, dass diesem Erfordernis Genüge getan wird. Sollte dies in irgendeinem Fall bedeuten, dass das nationale Gericht davon Abstand nehmen muss, einen Punkt aufzugreifen, der der Anklage zugutekommen, sich jedoch nachteilig für den Angeklagten auswirken könnte, dann ist das eben so. Lassen Sie mich weiter betonen: Unter keinen Umständen kann ein Gericht, das sich in einer Lage wie das vorlegende Gericht befindet, die Aufgabe haben, anstelle des Mitgliedstaats die Rechtfertigungsgründe darzulegen, die Letzterer nach Rn. 50 des Urteils Pfleger u. a.(61) beizubringen hat. Sollte eine derartige Rechtfertigung nicht geliefert werden (wie auch in allen anderen Fällen, in denen die Anklagebehörde es wegen Abwesenheit, Passivität oder aus einem anderen Grund versäumt, einer ihr obliegenden Aufgabe nachzukommen), darf das nationale Gericht aus diesem Versäumnis die gebotenen Schlussfolgerungen ziehen.
______________
Kyprianou/Zypern ergangen(51)
51      Urteil vom 15. Dezember 2005 (CE:ECHR:2005:1215JUD007379701).
Unparteilichkeit des Gerichts 52
52      Vgl. §§ 127 und 128 des Urteils.

Ozerov/Russland(53)
53      Urteil vom 18. Mai 2010 (CE:ECHR:2010:0518JUD006496201).
Unparteilichkeit geweckt(54)
54      Vgl. §§ 52 bis 55 des Urteils.

Karelin/Russland an(55)
55      Urteil vom 20. September 2016, Karelin/Russland (CE:ECHR:2016:0920JUD000092608). Wie oben in Fn. 29 erwähnt, wurde dieses Urteil vom vorlegenden Gericht separat übermittelt.
Unparteilichkeit verletzt worden(56).
56      Vgl. § 84 des Urteils.


Bei einer Abwesenheit des Anklagevertreters in der Verhandlung ist die Unparteilichkeit des Gerichts nicht gegeben.

Urteil vom 20.9.2016, 926/08 (Karelin/Russland)
CASE OF KARELIN v. RUSSIA
(Application no. 926/08)
JUDGMENT
STRASBOURG
20 September 2016

(Verfahrensmitteilung)
Application no. 926/08
Mikhail Yuryevich KARELIN against Russia
lodged on 19 November 2007
STATEMENT OF FACTS

Application no. 926/08
Mikhail Yuryevich KARELIN against Russia
lodged on 19 November 2007
mehr

KARELIN v. RUSSIA
Violation of Article 6 - Right to a fair trial (Article 6 - Administrative proceedings;Article 6-1 - Impartial tribunal);Non-pecuniary damage - award (Article 41 - Non-pecuniary damage;Just satisfaction) (englisch)
Art. 6, Art. 6 Abs. 1

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte zum Prinzip der Unparteilichkeit des Gerichts

Fundstellenverzeichnis:
Urteile und Entscheidungen des EGMR in deutscher Sprache
http://www.egmr.org/
http://www.eugrz.info/index.html
http://www.bmjv.de/egmr

Österreichisches Institut für Menschenrechte

Newsletter n. 59 - Europeanrights.eu

... continue the application before the Court;; 20.09.2016, Karelin v. Russia (n. 926/08), according to which the absence of a prosecuting party in the proceedings ...
20.09.2016, Karelin v. Russia (n. 926/08), according to which the absence of a prosecuting party in the proceedings against the accused person for an administrative offence could make the judge perform the role of a prosecutor and that gave legitimate grounds to doubt the impartiality of the court; since such violation was the result of the law and general practice applied by the Russian courts, the Court held that the Russian Government had to secure a mechanism which provided sufficient safeguards for ensuring the impartiality of the Courts in similar cases;
Quelle (doc-download)
 
Entscheidungen mit Verweis auf das Urteil „Karelin/Russland“

Gericht: Landesverwaltungsgericht Oberösterreich
Entscheidungsdatum: 20.12.2016
Geschäftszahl: LVwG-411363/19/Wim/BZ
Rn. 2.1.
„Weiters hat der Beschwerdevertreter vorgebracht, dass im Hinblick auf die Rechtssache Karelin gegen Russland (EGMR vom 20. September 2016 zu Zahl 926/08), aufgrund der amtswegig eingeholten Urkunden, die ausschließlich für die Bf belastend sind, Anscheinsbefangenheit des Gerichtes geltend gemacht werde, wobei die persönliche Integrität des Richters nicht in Zweifel gezogen werde.“
Rn. 4.6.
Der Argumentation der Bf, es liege im Sinne der Rechtssache Karelin (EGMR vom 20.9.2016, 926/08) auf Grund der beigeschafften Unterlagen zu den Auswirkungen des Glücksspiels eine Anscheinsbefangenheit des erkennenden Gerichts vor, kann nicht gefolgt werden. So hat der Verwaltungsgerichtshof bereits in seinem Erkenntnis vom 15. Dezember 2014, Ro 2014/17/0121, festgestellt, dass im Verwaltungsstrafverfahren vor den Verwaltungsgerichten gemäß § 38 VwGVG iVm § 25 VStG der Amtswegigkeitsgrundsatz und der Grundsatz der Erforschung der materiellen Wahrheit gelten. Betreffend die Ermittlung des Sachverhalts bedeutet dies, dass die Verwaltungsgerichte verpflichtet sind, von Amts wegen die entscheidungserheblichen Tatsachen zu erforschen und deren Wahrheit festzustellen. In diesem Sinne sind alle sich bietenden Erkenntnisquellen sorgfältig auszuschöpfen und insbesondere diejenigen Beweise zu erheben, die sich nach den Umständen des jeweiligen Falles anbieten oder als sachdienlich erweisen können.

Gericht: Landesverwaltungsgericht Oberösterreich
Entscheidungsdatum: 20.12.2016
Geschäftszahl: LVwG-411424/21/Wim/BZ - 411425/2
Rn. 2.1.
Weiters hat der Beschwerdevertreter vorgebracht, dass im Hinblick auf die Rechtssache Karelin gegen Russland (EGMR vom 20. September 2016 zur Zahl 926/08), aufgrund der amtswegig eingeholten Urkunden, die ausschließlich für die Bf belastend sind, Anscheinsbefangenheit des Gerichtes geltend gemacht werde, wobei die persönliche Integrität des Richters nicht in Zweifel gezogen werde.
Rn. 4.6.
Der Argumentation der Bf, es liege im Sinne der Rechtssache Karelin (EGMR vom 20.09.2016, 926/08) aufgrund der beigeschafften Unterlagen zu den Auswirkungen des Glücksspiels eine Anscheinsbefangenheit des erkennenden Gerichts vor, kann nicht gefolgt werden. So hat der Verwaltungsgerichtshof bereits in seinem Erkenntnis vom 15. Dezember 2014, Ro 2014/17/0121, fest­gestellt, dass im Verwaltungsstrafverfahren vor den Verwaltungsgerichten gemäß § 38 VwGVG iVm § 25 VStG der Amtswegigkeitsgrundsatz und der Grundsatz der Erforschung der materiellen Wahrheit gelten, wobei sich diese Judikatur auch auf Einziehungsverfahren übertragen lässt. Betreffend die Ermittlung des Sachver­haltes bedeutet dies, dass die Verwaltungsgerichte verpflichtet sind, von Amts wegen die entscheidungserheblichen Tatsachen zu erforschen und deren Wahr­heit festzustellen. In diesem Sinne sind alle sich bietenden Erkenntnisquellen sorgfältig auszuschöpfen und insbesondere diejenigen Beweise zu erheben, die sich nach den Umständen des jeweiligen Falles anbieten oder als sachdienlich erweisen können.
Gericht: Landesverwaltungsgericht Oberösterreich
Entscheidungsdatum: 21.12.2016
Geschäftszahl: LVwG-411288/17/Wim/BZ Linz
Rn. 2.1.
Weiters hätte der EGMR durch die Rechtssache K gegen Russland ausgesprochen, dass die inquisitorische Vorgangsweise zur Anscheinsbefangenheit des Gerichtes führt und die amtswegige Einholung von ausschließlich für die Bf belastenden Materialien unzulässig ist. Anscheinsbefangenheit werde auch in diesem Verfahren geltend gemacht, wobei die persönliche Integrität des Richters nicht in Zweifel gezogen werde.
Rn. 4.5.
Der Argumentation der Bf, es liege im Sinne der Rechtssache K (EGMR vom 20.09.2016, 926/08) aufgrund der beigeschafften Unterlagen zu den Auswirkungen des Glücksspiels eine Anscheinsbefangenheit des erkennenden Gerichts vor, kann nicht gefolgt werden. So hat der Verwaltungsgerichtshof bereits in seinem Erkenntnis vom 15. Dezember 2014, Ro 2014/17/0121, festgestellt, dass im Verwaltungsstrafverfahren vor den Verwaltungsgerichten gemäß § 38 VwGVG iVm § 25 VStG der Amtswegigkeitsgrundsatz und der Grundsatz der Erforschung der materiellen Wahrheit gelten, wobei sich diese Judikatur auch auf Einziehungsverfahren übertragen lässt. Betreffend die Ermittlung des Sachverhalts bedeutet dies, dass die Verwaltungsgerichte verpflichtet sind, von Amts wegen die entscheidungserheblichen Tatsachen zu erforschen und deren Wahrheit festzustellen. In diesem Sinne sind alle sich bietenden Erkenntnisquellen sorgfältig auszuschöpfen und insbesondere diejenigen Beweise zu erheben, die sich nach den Umständen des jeweiligen Falles anbieten oder als sachdienlich erweisen können.



Gericht: Landesverwaltungsgericht Oberösterreich
Entscheidungsdatum: 27.10.2016
Geschäftszahl: LVwG-000166/4/Gf/Mu

Rechtssatz

* Mit Blick auf die im vorliegenden Fall allein strittige Frage, ob die Methode der Atlas-Energetik-Therapie vom Berufsbild eines Physiotherapeuten erfasst ist, findet sich weder im Spruch noch in der Begründung des Straferkenntnisses ein Hinweis oder eine nähere Konkretisierung dahin, inwiefern das ihm angelastete Anbieten einer derartigen Ausbildung dem Berufsbild des Physiotherapeuten nach dem MTD-G unterliegt. Vielmehr wird offenbar stillschweigend unterstellt, dass es sich bei der vom Bf. praktizierten Methode um eine den Physiotherapeuten vorbehaltene Tätigkeit handelt. Ohne nähere Belege trifft eine solche Sichtweise jedoch – mangels entsprechender Offenkundigkeit – in dieser Allgemeinheit nicht zu. Da es sich insoweit nicht ausschließlich um eine Rechts-, sondern auch um eine Sachfrage handelt – konkret geht es nämlich um die Abgrenzung dahin, ob und wenn ja, inwieweit den Physiotherapeuten nicht nur chiro-physische, sondern auch psychoenergetische Behandlungsmethoden vorbehalten sind –, hätte diese zuvor durch ein entsprechendes Sachverständigengutachten geklärt werden müssen.
Ein solches wurde aber einerseits von der belangten Behörde nicht in Auftrag gegeben; andererseits würde – wie der EGMR jüngst in seinem Urteil vom 20.9.2016, 926/08 (Karelin/Russland), festgestellt hat – eine diesbezüglich autonom-ergänzende Beweisführung durch das Verwaltungsgericht dem in Art. 6 Abs. 1 EMRK zum Ausdruck kommenden Prinzip der Unparteilichkeit des Gerichts widersprechen.

Wenn daher nur auf Basis eines Sachverständigengutachtens dem Beschuldigten eine Übertretung des § 2 AusbVorbG i.V.m. § 2 Abs. 1 MTD-G spruchmäßig hinreichend konkretisiert angelastet werden kann, eine solche fachkundige Beurteilung jedoch objektiv besehen (aus welchen Gründen auch immer) de facto nicht vorliegt, dann erweist sich die Tatumschreibung konsequenterweise als unzureichend, sodass das Straferkenntnis den Anforderungen des § 44a Z. 1 VStG nicht entspricht;

* Da dem Bf. ein Verhalten angelastet wurde, das in jener Form, in der dieses seitens der belangten Behörde spruchmäßig fixiert wurde, keinen Straftatbestand erfüllt, war der gegenständlichen Beschwerde stattzugeben und das angefochtene Straferkenntnis aufzuheben. Eine Einstellung des Verwaltungsstrafverfahrens war hingegen im Hinblick auf die gegenwärtig noch offene Verfolgungsverjährungsfrist des § 31 Abs. 1 VStG nicht zu verfügen. Ob bzw. in welcher Form das Strafverfahren weitergeführt wird, hat vielmehr im Lichte des zuvor angeführten Urteils des EGMR vom 20. September 2016, 926/08, die belangte Behörde aus eigenem zu beurteilen. Dem stünde das Doppelverfolgungs- und  bestrafungsverbot des Art. 4 des 7.ZPMRK nicht entgegen, weil eine explizit ohne Einstellung verfügte Aufhebung eines Straferkenntnisses nicht einer rechtskräftigen Erledigung des Verwaltungsstrafverfahrens gleichzuhalten ist (vgl. in diesem Sinne schon VwGH vom 4. Juli 1991, 90/10/0131; vom 27. Mai 1988, 88/18/0034; und vom 22. Jänner 1980, 1967/79, allerdings jeweils noch zur Rechtslage vor der VStG-Novelle 1991; zur geltenden Rechtslage vertrat der VwGH hingegen in Bezug auf die Unabhängigen Verwaltungssenate die Auffassung, dass eine derartige Vorgangsweise nicht zulässig war [vgl. VwGH vom 29. März 1994, 93/04/0021, und vom 16. Oktober 2001, 99/09/0150]).

European Case Law Identifier
ECLI:AT:LVWGOB:2016:LVwG.000166.4.Gf.Mu

Quelle

BMJV - Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz:

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
Die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), zu deren Ratifikation jeder Mitgliedstaat des Europarats verpflichtet ist, sieht mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg einen ständigen internationalen Spruchkörper vor.

Umsetzung der Urteile

Der beteiligte Vertragsstaat ist nach Artikel 46 EMRK an die Entscheidungen des EGMR gebunden – das endgültige Urteil muss also beachtet werden. Dies beinhaltet die Zahlung einer gerechten Entschädigung, sofern der Gerichtshof dem Beschwerdeführer eine solche zuerkannt hat, und das Ergreifen von Maßnahmen, um den Zustand einer festgestellten Konventionsverletzung für den Beschwerdeführer zu beenden und deren Folgen zu beseitigen. Außerdem muss sichergestellt werden, dass eine Verletzung der Konvention in zukünftigen gleichgelagerten Fällen vermieden wird. Die Umsetzung der Urteile des EGMR wird durch das Ministerkomitee des Europarats überwacht.
Entschädigung

Stellt der Gerichtshof einen Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention fest, kann er der verletzten Partei nach Artikel 41 EMRK "eine gerechte Entschädigung" zusprechen. Voraussetzung ist allerdings, dass eine vollständige Wiedergutmachung durch den Vertragsstaat nicht möglich ist. Sowohl der Ersatz materieller als auch immaterieller Schäden ist möglich.
Stellungnahmen der Bundesregierung

Der größte Teil der Beschwerden wird von dem Gerichtshof nur aufgrund der vom Beschwerdeführer vorgelegten Unterlagen, d. h. auch ohne eine Stellungnahme des beschwerdegegnerischen Staates, für unzulässig erklärt. Auch der größte Teil der Beschwerden gegen Deutschland wird wegen offensichtlicher Unzulässigkeit gar nicht erst der Bundesregierung übersandt. Eine förmliche Aufforderung an die Bundesrepublik Deutschland zur Stellungnahme erfolgt lediglich in etwa zwei Prozent der Fälle. Dies betrifft insbesondere Beschwerden, die weiterer Aufklärung bedürfen.

Der EGMR und der EuGH

Leicht verwechselt werden kann der EGMR mit dem Europäischen Gerichtshof (EuGH).

Der EuGH prüft das Recht der Europäischen Union, so genanntes Gemeinschaftsrecht und ist insbesondere dafür zuständig, die Grundfreiheiten des EG-Vertrages juristisch abzusichern.

Der EGMR setzt sich aus Richterinnen und Richtern aus allen Vertragsstaaten zusammen und spricht in folgenden Verfahren Recht:

Individualbeschwerdeverfahren:
Einzelne Personen können sich gegen einen Vertragsstaat der Konvention richten – das praktisch wichtigste und häufigste Verfahren vor dem EGMR. Weitere Informationen und Formulare des EGMR auf Deutsch finden sie hier.
Staatenbeschwerdeverfahren:
Vertragsstaaten können Verletzungen der EMRK durch einen anderen Vertragsstaat geltend machen.

Daneben kann der Gerichtshof auf Ersuchen des Ministerkomitees des Europarats auch Gutachten zu Fragen der Auslegung der Konvention und ihrer Protokolle abgeben.
Stand: 5. November 2015
Quelle

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