Sonntag, 12. Februar 2017

EU-Länder sind an Grundrechte-Charta gebunden


Schlussanträge des Generalanwalts in der Rechtssache C-638/16 PPU (Pressemitteilung) s.u.

Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, der Verfassungsurkunde der Gemeinschaft” zum 1. Dezember 2009 wurde die neue Europäische Union geschaffen und die EU-Grundrechtecharta rechtsverbindlich.
(vgl. u.a. BFH Urteil vom 24.10.2013, V R 17/13 mit Verweis auf EuGH C-617/10, Fransson)


Generalanwalt am EU-Gericht, Paolo Mengozzi:

Jedes EU-Land sei bei der Erteilung von Visa an die Grundrechte-Charta gebunden - egal wo die Person herkommt. Das erklärte Mengozzi nun in seinem Schlussantrag vor Gericht.

Und er ergänzte:

Die syrische Familie habe zudem genug Beweise dafür geliefert, dass sie in Aleppo in großer Gefahr schwebe. Belgien sei also verpflichtet, der Familie die Einreise zu erlauben.
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EU-Generalanwalt stärkt Recht auf EU-Visa für Folteropfer
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In seinem Antrag stützt sich der Generalanwalt auf die Grundrechtecharta der Union.

Ihn lässt es kalt, dass diese ausschließlich für EU-Bürger und solche Ausländer gilt, die in der EU leben, nicht aber für alle anderen Menschen auf der Welt.
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Gerichtshof der Europäischen Union
PRESSEMITTEILUNG Nr. 11/17
Luxemburg, den 7. Februar 2017
Schlussanträge des Generalanwalts in der Rechtssache C-638/16 PPU


Nach Auffassung von Generalanwalt Mengozzi sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, ein humanitäres Visum zu erteilen, wenn ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass bei einer Verweigerung Personen, die internationalen Schutz suchen, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt werden

Es ist unerheblich, ob zwischen der betroffenen Person und dem ersuchten Mitgliedstaat Verbindungen bestehen

Am 12. Oktober 2016 stellte ein syrisches Ehepaar und dessen drei kleine Kinder, die in Aleppo (Syrien) leben, bei der belgischen Botschaft in Beirut (Libanon) Visumanträge.  Am 13. Oktober 2016 kehrten sie nach Syrien zurück. Mit  ihren Anträgen begehrten sie die Erteilung von Visa mit räumlich beschränkter Gültigkeit nach dem EU-Visakodex (1), die es der Familie ermöglichen sollten, die belagerte Stadt Aleppo zu verlassen, um in Belgien einen Asylantrag zu stellen.  Einer der Antragsteller  bringt  u. a.  vor,  er sei von einer bewaffneten Gruppe entführt, geschlagen und gefoltert worden, bevor er schließlich gegen Lösegeld freigelassen worden sei. Die Antragsteller betonen  insbesondere die Verschlechterung der Sicherheitslage in Syrien  im Allgemeinen und in Aleppo  im Besonderen  sowie den Umstand, dass sie  aufgrund  ihres christlich-orthodoxen Glaubens der Gefahr  einer Verfolgung wegen  ihrer  religiösen Überzeugung  ausgesetzt seien.
Außerdem hätten sie u. a. angesichts dessen, dass die Grenze zwischen dem Libanon und Syrien zwischenzeitlich geschlossen worden sei, keine Möglichkeit, sich in einem der angrenzenden Länder als Flüchtling registrieren zu lassen.

Am 18. Oktober 2016  lehnte das Ausländeramt (Belgien) die Anträge ab. Es ist der Ansicht, die betroffene syrische Familie habe aufgrund dessen, dass sie ein Visum mit räumlich beschränkter Gültigkeit beantragt habe, um in Belgien einen Asylantrag zu stellen, offensichtlich beabsichtigt, sich länger als 90 Tage in Belgien aufzuhalten.(2) Ferner seien die Mitgliedstaaten insbesondere nicht verpflichtet, alle Personen, die eine katastrophale Situation erlebten, in ihr Hoheitsgebiet aufzunehmen.

Die syrische Familie rief daher den Rat für Ausländerstreitsachen (Belgien) an und beantragte die Aussetzung der Vollziehung der Entscheidungen über die Ablehnung der Visumanträge. Dieses Gericht hat im Eilverfahren beschlossen, dem Gerichtshof Fragen zur Auslegung des Visakodex sowie der  Art. 4  („Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung“)  und  18 („Asylrecht“)  der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vorzulegen.

In seinen heute verlesenen Schlussanträgen stellt Generalanwalt Paolo Mengozzi als Erstes fest, dass die Situation der betroffenen syrischen Familie in den Regelungsbereich des Visakodex und damit des Unionsrechts fällt.
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1)  Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft, insbesondere Art. 25 Abs. 1 Buchst. a.

2)  Gemäß Art.1 Abs. 1 und 2 des Visakodex werden mit dieser Verordnung „die Verfahren und Voraussetzungen für die Erteilung von Visa für die Durchreise durch das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder für geplante Aufenthalte in diesem Gebiet von höchstens drei Monaten je Sechsmonatszeitraum festgelegt“.  Nach  Art. 32  Abs. 1  Buchst. b des Visakodex wird das Visum verweigert, wenn begründete Zweifel an der vom Antragsteller bekundeten Absicht bestehen, das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vor Ablauf der Gültigkeit des beantragten Visums zu verlassen.



Er ist außerdem der Ansicht, dass die Behörden der Mitgliedstaaten beim Erlass von Entscheidungen nach dem Visakodex Unionsrecht durchführen und damit verpflichtet sind, die in der Charta garantierten Rechte zu wahren.

Generalanwalt Mengozzi betont insoweit, dass die in der Charta verankerten Grundrechte – die zu achten  alle  im Rahmen des Unionsrechts handelnden Behörden der Mitgliedstaaten verpflichtet sind  –  den Adressaten der von einer solchen Behörde erlassenen Rechtsakte unabhängig von jeglichem territorialen Kriterium garantiert sind.

Die Frage, ob ein Mitgliedstaat verpflichtet ist, bei Vorliegen einer Situation, in der die durch Tatsachen bestätigte Gefahr eines Verstoßes  u. a.  gegen  Art. 4  der Charta besteht, ein humanitäres Visum auszustellen, bejaht der Generalanwalt, und zwar unabhängig davon, ob zwischen der Person und dem ersuchten Mitgliedstaat Verbindungen bestehen.

Der Generalanwalt widerspricht  einer Auslegung des Visakodex, nach der dieser den Mitgliedstaaten eine bloße Ermächtigung erteilt, solche Visa auszustellen. Seine Auffassung stützt sich sowohl auf den Wortlaut und die Systematik der Bestimmungen des Visakodex als auch auf die Notwendigkeit, dass die Mitgliedstaaten, wenn sie diese Bestimmungen anwenden, bei der Wahrnehmung ihres Beurteilungsspielraums die in der Charta garantierten Rechte wahren.

Vor diesem Hintergrund ist der den Mitgliedstaaten zustehende Beurteilungsspielraum notwendigerweise durch das Unionsrecht begrenzt.

Für den Generalanwalt steht fest, dass die Antragsteller  in Syrien zumindest der tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen Behandlung von extremer Schwere ausgesetzt waren, die eindeutig unter das Verbot nach Art. 4 der Charta fällt.  Insbesondere in Anbetracht der Informationen, die über die Lage in Syrien verfügbar sind, durfte der belgische Staat nicht den Schluss ziehen, dass er davon befreit sei, seiner positiven Verpflichtung nach Art. 4 der Charta nachzukommen.

Generalanwalt  Mengozzi  schlägt dem Gerichtshof vor, dem Rat für Ausländerstreitsachen zu antworten, dass ein Mitgliedstaat, von dem ein Drittstaatsangehöriger die Erteilung eines Visums mit räumlich beschränkter Gültigkeit aus humanitären Gründen begehrt, verpflichtet ist, ein solches Visum zu erteilen, wenn ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass die Verweigerung der  Ausstellung  dieses Dokuments zur unmittelbaren Folge haben wird, dass der Drittstaatsangehörige einer unter das Verbot des Art. 4 der Charta fallenden Behandlung ausgesetzt wird, und  ihm dadurch eine rechtliche Möglichkeit vorenthalten wird, sein Recht, in diesem Mitgliedstaat um internationalen Schutz zu ersuchen, auszuüben.

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HINWEIS:  Die Schlussanträge des Generalanwalts sind für den Gerichtshof nicht bindend. Aufgabe des Generalanwalts ist es, dem Gerichtshof in völliger Unabhängigkeit einen Entscheidungsvorschlag für die betreffende Rechtssache zu unterbreiten. Die Richter des Gerichtshofs treten nunmehr in die Beratung ein.
Das Urteil wird zu einem späteren Zeitpunkt verkündet.

HINWEIS: Im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Union vorlegen. Der Gerichtshof entscheidet nicht über den nationalen Rechtsstreit. Es ist Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Gerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Gerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.


Quelle